Nachdem ich so langsam eingesehen hab, dass mir mein Praktikum zwar Spaß bringt, aber meine Zeit hier in Bolivien beschränkt ist, habe ich mir mal ein verlängertes Wochenende gegönnt und bin mit einem Arbeitskollegen in sein Heimatdorf gereist. Der Arbeitskollege heißt Adolfo und ist vom Volk der Quetschua – also ein Nachfahre der Inka. Charazani wiederum heißt sein Heimatort und liegt rund drei Fahrtstunden nördlich des Titicaca-Sees im Taka-Tuka-Land (kleines Wortspiel, sorry).
Traumhaft gelegen in den Tälern des nordöstlichen Andenabfalls auf halbem Weg zwischen dem Altiplano und dem Amazonastiefland war diese Gegend zentraler Bestandteil des Inkastaates “Tahuantinsuyu”, dem Reich der vier Weltgegenden – und wohl schon vorher Teil des Imperiums von Tiwanaku, über das mehr Fragen als Antworten existieren. Berühmt ist die Gegend um Charazani auch für das Volk der Kallawaya, die Druiden der Anden, die mit ihrem Wissen um Naturheilkunde schon die Inkas überzeugen konnten und inzwischen auch in der Welt der modernen Medizin Anerkennung gefunden haben. Dies führt dazu, dass die Kallawaya mittlerweile zu allen möglichen Kongressen um die Welt reisen und mit ihrem Wissen auch in der westlichen Welt viel Geld verdienen – in ihrer Heimat jedoch kaum noch anzutreffen sind. Mir jedenfalls ist keiner von ihnen über den Weg gelaufen. Was vielleicht aber auch gut war, denn man sagt ihnen neben ihren erstaunlichen Heilkräften auch die Beherrschung schwarzer Magie nach…
Statt mich verhexen zu lassen, bin ich also lieber mit Adolfo durch die atemberaubende Berglandschaft über alte Inkawege gewandert. Wirklich erstaunlich ist, wie die Menschen hier seit Jahrhunderten sämtliche Bergänge in Terassen verwandeln, um auf diesen – je nach Höhenlage – Quinua, Kartoffeln, Bohnen, Mais und Getreide anzubauen. Ebenso erstaunlich ist, dass die Kühe sich hier eher wie Ziegen verhalten und mit schlafwandlerischer Sicherheit die überaus steilen Hänge entlangspazieren.
In den weit verstreuten Dörfern scheint die Zeit weitgehend stehengeblieben zu sein und diese bilden dann auch einen starken Kontrast zur Hektik in La Paz – und jedes der Dörfer wiederum hat seine ganz eigenen Gebräuche, Kleidungsstücke, Dialekte. Und um das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden, habe ich die Situation genutzt, um mit den Mitgliedern der Bürgermeisterschaften und lokalen Autoritäten Interviews für meine Magisterarbeit zu führen. Im Jahre 1994 hat Bolivien die Beteiligung der Bevölkerung an politischen Entscheidungen in den Gemeinden gewissermaßen institutionalisiert. Die Auswirkungen dieser Beteiligung auf die lokale Entwicklung will ich in meiner Arbeit untersuchen. In einigen ländlichen Regionen – wie bspw. in Charazani – ist die Beteiligung der Bevölkerung derart obligatorisch, dass zu Bürgerversammlungen einzelne Wächter ernannt werden, die mit Peitschen bewaffnet dafür sorgen, dass keiner die Versammlung verlässt, bevor diese nicht offiziell beendet ist. Klingt recht hart – aber vielleicht wäre das ja ein Mittel gegen die leeren Reihen in deutschen und europäischen Parlamenten??
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